Traumjob Baumkletterer: Nichts für schwache Nerven
Eigentlich sind Baumkletterer die perfekten Partner, denke ich, während ich im Hofgarten stehe und Gabriel Seidl zehn Meter über mir in einem Tulpenbaum hängt. In seiner Freizeit muss Seidl sich nicht mehr großartig ausleben, „schließlich bietet der Arbeitsplatz Nervenkitzel genug“, den Sixpack gibt es inklusive und auch der Heldenstatus ist garantiert. Denn: Ohne den Einsatz von ihm und seinen Kollegen wären Unfälle, bei denen Bäume auf Autos oder Äste auf Köpfe krachen, an der Tagesordnung. „Haben Sie keine Angst?“, frage ich. „Bei zehn Metern? Nein! Richtig hoch wird es erst ab 30 Metern, so wie auf einigen Pappeln entlang der Wertach. Außerdem sind wir gut gesichert und immer zu zweit unterwegs“, ruft Seidl mir zu. Dann schwingt er sein kurzes Arbeitsseil um einen dicken Ast und beginnt zu sägen. Einer seiner Kollegen hat bei der Baumkontrolle totes Holz entdeckt, das muss entfernt werden. Schließlich steht den Tulpenbaum mitten auf einer Liegewiese.
Baumpflege und -kontrolle: So funktioniert‘s
Um die Sicherheit in Augsburgs Grünanlagen, Kindergärten, Schulen, Friedhöfen und entlang von Straßen zu gewährleisten, sind im Stadtgebiet elf Baumkontrolleure unterwegs. Ist etwas nicht in Ordnung, notieren sie den Schaden. Diese Information geht dann an einen der Baumpfleger im Amt für Grünordnung, Naturschutz und Friedhofswesen. Mit den drei Hubsteigern im Amt können sie sich direkt in die Krone befördern lassen – in einer zwei Quadratmeter großem Korb einer Hebebühne. Dort, wo kein Durchkommen für die Hubsteiger ist, wird geklettert.
Lebensraum versus Problembaum
Wie viele Bäume der Fachbereich Grünpflege kontrolliert und pflegt, weiß keiner so genau. Es gibt keine digitale Erfassung. Seidl schätzt, dass es über 100 000 Bäume sind. Jedes Exemplar wird einmal pro Jahr überprüft; bekannte Problemfälle auch öfter. Die Platane vor dem Gögginger Rathaus zum Beispiel bringt den Fachbereich immer wieder an seine Grenzen. In ihr richten sich regelmäßig Spechte ein, die Höhlen machen den Stamm brüchig. Seidl zeigt Verständnis: „Bäume sind Lebensräume für zahlreiche Tierarten, echte Hochhäuser eben.“ Tierlieb sind Baumkletterer also auch noch, ich notiere ein weiteres Plus. „In Biotopen würden wir den Baum einfach so lassen wie er ist“, fügt Seidl hinzu. Vor dem Gögginger Rathaus wäre das zu gefährlich. Der Baum könnte auf das alte Gebäude oder die Straße stürzen. Ihn zu fällen, ist auch keine Option: Die über 150 Jahre alte Platane steht als Naturdenkmal unter besonderem Schutz. Robert Dettenrieder, Bezirksleiter im Fachbereich Grünflächenpflege und selbst Baumkontrolleur und -kletterer, erklärt, wie vorgegangen wurde: „Wir haben die Krone eingekürzt und mit speziellen Seilen gesichert. Jetzt ist der Baum erstmal wieder stabil.“ Allerdings hat die Platane einen weiteren Bewohner, der ihr vermutlich bald wieder zu schaffen macht: den zottigen Schillerporling, einen parasitären Pilz.
Feindbild Pilz
Beim Schillerporling ist es dann auch bei den Baumkletterern vorbei mit der Tierliebe. „Pilze sind nur im Kochtopf gut“, scherzt Dettenrieder. Im Baum zersetzen sie das Holz, Äste drohen zu brechen und der Stamm droht umzufallen. Das Tückische: Oft sieht man dem Baum gar nicht an, wie sehr er unter dem Befall leidet. Da sitzt ein Pilz auf einem Stamm und sieht eigentlich ganz niedlich aus, der Baum macht auch noch gut etwas her. Doch das Myzel, das Wurzelgeflecht des Pilzes, hat sich bereits durch den ganzen Stamm gefressen. „Wenn wir einen Baum fällen, der für den Bürger gesund aussieht, bekommen wir immer wieder Beschwerden.“ Verstehe ich. Versteht auch Dettenrieder, der es aber zum Glück besser weiß. Wenn er sich einem Baum nähert, erkennt er nach wenigen Minuten, ob alles in Ordnung ist. Rinde, Krone, Wuchsform, Astgabeln und Stamm, alles wird genau gescannt und im Zweifelsfall auch abgehört: Mit einem Gummihammer klopft Dettenrieder auf den Stamm. „Morsches Holz klingt anders als frisches“, erklärt er. Sollte die Diagnose immer noch unklar sein, bohrt er mit einem speziellen Holzmessgerät, dem sogenannten Resistographen, in den Stamm und misst die Holzhärte.
Fällen als Ausnahme
Der Bezirksleiter nimmt mich mit zu einem Baum im Wittelsbacher Park. Man muss kein Profi sein, um zu erkennen, dass der Stamm sich nicht mehr lange halten kann. Er hat einen langen, tiefen Riss und eine 45-Grad-Schieflage eingenommen. Blöderweise direkt über dem Vereinsheim des Tennisclubs Schießgraben e.V. „Hier müssen wir fällen“, so Dettenrieder. Ein Satz, der ihm sichtlich schwer fällt, den er aber nicht allzu oft sagen muss. Wird ein Schaden festgestellt, bleibt der Baum in rund 96 Prozent der Fälle stehen. Das Todesurteil erhält ein Baum nur, wenn er bereits so kaputt ist, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er auf eine Straße, eine Liegewiese oder ein Gebäude fällt. Dann zeigt Dettenrieder mir das Hintergrundbild seines Handys – zwei Eichenstämme, die in sich verwachsen sind – und läuft zum nächsten Baum, der auch ein wenig schief aussieht, aber absolut sicher steht, wie er mir versichert. Der Baum habe sich selbst stabilisiert. Das erkenne man an der Wuchsform.
Nur für Schwindelfreie
Robert Dettenrieders Begeisterung und sein Fachwissen beeindrucken mich immer mehr. „Wie wird man eigentlich Baumpfleger oder – besser gesagt – Baumpflegerin?“, erkundige ich mich bei Irina Ehlert, stellvertretende Leiterin des Fachbereichs Grünpflege. Sie verteilt die Maßnahmen im Stadtgebiet und erklärt: „Alle Baumpfleger und -kontrolleure kommen aus dem grünen Bereich. Sie sind Gärtner oder Forstwirte, die erfahrene Kollegen begleiten und spezielle Fortbildungen erhalten.“ Die Mitarbeiter, die dann wirklich klettern, brauchen zudem einen Seilkletterkurs. Und ganz wichtig: keine Höhenangst. Verdammt. Für mich bleibt der Traumberuf Baumkletterer also ein Traum. Aber vielleicht hat mein Freund ja Lust, umzuschulen … (je)
Titelfoto: Ruth Plössel
Fotos: Siegfried Kerpf